Systematische Theologie

Uwe Zerbst: Ich glaube, darum denke ich

Uwe Zerbst: Ich glaube, darum denke ich. Christlicher Glaube angesichts der Herausforderung durch den Zeitgeist, Beiträge zu Apologetik, Religionswissenschaft und Christlicher Philosophie 1, Ansbach: Logos Edition Science, 2021, Hb., 312 S., € 29,95, ISBN 978-3-945818-29-9


Der promovierte Ingenieurwissenschaftler, Professor Uwe Zerbst hat ein großformatiges Werk von 312 Seiten zu einem der zentralen Themen christlicher Apologetik vorgelegt. In seiner umfangreichen geistesgeschichtlichen Analyse verfolgt er die Thematik „Glaube und Vernunft“. Es ist eine unglaubliche Menge an Stoff, die der Autor durchgearbeitet hat. Allein schon das 17 Seiten im DIN-A-4-Format doppelspaltig gedruckte Literaturverzeichnis ist grandios. Entsprechend umfangreich und detailliert sind die jedem Kapitel kontinuierlich beigegebenen Belege und Zitate.

Der Autor geht von Anfang an einen historischen Weg, indem er die verschiedenen Epochen der Geistes- und Theologiegeschichte nachzeichnet und bewertet.

Hinsichtlich der großen Epochen, die aufgearbeitet werden, beginnt er zunächst mit der griechischen Antike. Dies legt sich sachlich nahe, weil die frühchristliche Theologie durch die Apologeten des 1. und 2. Jahrhunderts entscheidende Weichenstellungen vollzogen hat. Zerbst bezieht sich zunächst auf die Naturphilosophen unter den Vorsokratikern als auch auf die großen Repräsentanten abendländischer Philosophie, nämlich Platon und Aristoteles. Brisant ist die Argumentation besonders im Blick auf die theologische und kirchliche Relevanz von Aristoteles. Dieser war insofern Antipode Platons, als er mit seinem Werk akribisch und leidenschaftlich Naturphänomene erforschte, die dann – wie der Verfasser nachweist – schulbildend für die gesamten theologischen Arbeiten der Patristik bis hin zur Scholastik des ausgehenden Mittelalters wurden. Aber auch in der früheren Neuzeit waren die Überzeugungen des Aristoteles maßgeblich und die Kirche hat – wie Zerbst belegt – unter Berufung auf Aristoteles ihre Naturerkenntnis begründet. Sie lehnte alles, was Aristoteles widersprach, vehement ab. Die Prozesse gegen Galileo Galilei und Johannes Kepler sind nach Zerbst dafür die prominentesten Belege. Unter der humoristischen Titelüberschrift „Ein Problem namens Aristoteles“ macht Zerbst als Naturwissenschaftler deutlich, dass die inhaltliche Bindung der Kirche an die aristotelische Philosophie in der Neuzeit zu einem Bruch zwischen naturwissenschaftlicher Weltanschauung einerseits und theologischem Weltbild andererseits führte. Das hatte langfristig für das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft verheerende Folgen. Der Autor beschreibt einen weiten historischen Bogen, um dann seine Überlegungen im Horizont physikalischer und astronomischer Erkenntnisse des frühen 20. Jahrhunderts fortzuführen.

Die bahnbrechenden Entdeckungen von Albert Einstein, Werner Heisenberg, Max Planck und Niels Bohr verweisen die aristotelische Naturphilosophie endgültig in den Bereich vorwissenschaftlicher Argumentationen, die sich heute in keiner Weise mehr behaupten lassen. Weil Theologie und Kirche zu lange an Aristoteles anknüpften und seinen Denkwegen folgten, ging die Schere immer weiter auseinander. Zerbst umreißt diese Problematik gründlich. Allerdings ist bedauerlich, dass er auf den wohl wichtigsten Theologen in dieser Fragestellung nicht eingeht, nämlich den Tübinger Systematiker Karl Heim. Heim hatte gezeigt, dass die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens durch das biblische Offenbarungswissen keinesfalls infrage gestellt wird.

Theologisch in die Tiefe geht Zerbst vor allem in dem Abschnitt über die Reformation. Der Wittenberger Reformator hat u. a. von der „Hure Vernunft“ gesprochen, um damit einen Vernunftgebrauch zu geißeln, durch den der sündige Mensch sich von Gott emanzipiert.

Für viele evangelikale Leser dürfte dann die Verbindung, die der Autor zwischen europäischer Aufklärung einerseits und dem Pietismus andererseits postuliert, ungewohnt erscheinen, denn es ist offensichtlich, dass der Zusammenhang von neuzeitlicher Religionskritik und Säkularisierung für den Glauben schwerwiegende Probleme aufwirft. Dazu gehört die Frage nach der Beweisbarkeit Gottes, die Beschränkung des Denkens durch die Sünde sowie die Frage nach der Begründung der Moralität und der Menschenrechte.

Starke Verbindungen zwischen Aufklärung und Pietismus bestehen laut Zerbst in der Forderung nach Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Auch die optimistisch aufklärerische Weltsicht, die davon ausgeht, dass der Mensch durch Erziehung in die Lage versetzt werden könne, das Gute aus rein rationaler Einsicht zu tun, bleibt nach Zerbst falsch. Dennoch beweist der Autor, dass Querverbindungen zwischen Pietismus und Aufklärung bestehen.

In diesem Umfeld haben die prominenten Vertreter des sogenannten Barockpietismus im 18. Jahrhundert wichtige Impulse gegeben, so z. B. August Hermann Francke und der Reichsgraf Nikolaus von Zinzendorf, dessen Wirken Zerbst ausführlich würdigt. Entsprechendes gilt für Francke, der stark von pädagogischen Utopien bestimmt war. Dennoch hat Francke durch sein großartiges Werk der „Halleschen Anstalten“ einen Anfang gesetzt. Ihm schwebte eine „Generalreformation der Welt“ vor, für die er auch Anknüpfungspunkte in der noch jungen Tradition der Vereinigten Staaten sah. Zerbst erweist sich als profunder Kenner der angelsächsischen Welt, denn in den USA ist die tiefgreifende Verbindung zwischen aufgeklärten Ideen und Christentum charakteristisch. Die Gründerväter der USA – nicht zuletzt Benjamin Franklin – konnten mit der theologisch konservativen Position der puritanischen Pilgerväter gut kooperieren.

Aus europäischer Perspektive mündet die Entwicklung dann in die Französische Revolution. Sie verwies auf das Naturrecht und betonte die Würde des Menschen. Auf diesem Hintergrund der Analyse von Zerbst zeigen sich dann auch Übereinstimmungen zwischen der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Ohne die entscheidenden Impulse der Aufklärung und des Pietismus ist weder die Kirchen- noch die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts mit ihrem starken Einfluss auf die Entwicklung im 20. Jahrhundert denkbar. Dies zu erkennen, ist ein Verdienst des Buches.

Die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge zeigen sich nach Zerbst nicht zuletzt im Umgang mit der sogenannten Postmoderne. Dabei geht der Verfasser moderat und abwägend vor. Er sieht durchaus eine Stärke in der Postmoderne, nicht zuletzt in ihrer Bescheidenheit gegenüber dem Optimismus und Autoritätsanspruch der europäischen Aufklärung. Die Postmoderne mit ihrer prinzipiellen Offenheit bietet für Zerbst viele Chancen und Herausforderungen für den Pietismus. Im 19. und noch mehr im 20. Jahrhundert sind die Gewissheiten und Versprechen der Aufklärung nämlich weithin relativiert worden. Der Glaube, dass die Vernunft aus sich heraus dem Menschen Existenzgewissheit und der Gesellschaft Orientierung geben könne, ist fragwürdig geworden. Zerbst verweist auf Bischof John Finney, der die Postmoderne als „schrägen Vogel“ bezeichnet hat. Hinsichtlich der Moderne gibt es einen starken Flügel des rationalen Denkens und der Wissenschaften als innovative Kräfte. Der andere Flügel der Postmoderne ist jedoch zutiefst problematisch, weil die Preisgabe des Wahrheitsverständnisses in die Irre führt. Das zeigt der Autor im Blick auf die Lebensphilosophien des Existentialismus und des Pragmatismus, die nicht tragfähig sind. Es bleibt allerdings bei diesem Resümee von Zerbst, dass die Antworten auf das Scheitern der Moderne seitens der Postmoderne berechtigt sind. Die Postmoderne hat aufgedeckt, dass der Mensch in keiner Phase seiner Entwicklung aus der Vernunft heraus zur Existenzbegründung in der Lage ist.

Die Ursache dafür sieht Zerbst in der prinzipiellen Verdunklung der Vernunft durch die Macht der Sünde. Der Mensch ist in der Regel nicht willens und in der Lage, die Begrenztheit seines Denkvermögens zu akzeptieren. Das Suchen nach Sicherheit im Denken (securitas) ist erfolglos und außerhalb der menschlichen Reichweite. Aber die Certitudo, d. h. die Gewissheit des Glaubens, steht aufgrund der Gnade dem Suchenden offen.

Weiterhin weist Zerbst darauf hin, dass wissenschaftliches Arbeiten auf der Grundlage von Axiomen, d. h. von Fundamentalsätzen, die als solche nicht begründet werden können, überhaupt erst möglich ist. Axiomatische Basissätze können erst dann logisch erschlossene Folgerungen bzw. empirisch begründete Theorien beweisen. Diese müssen vor allem falsifizierbar sein.

In diesem Kontext kritisiert Zerbst deshalb auch die klassische Bibelkritik, wie sie der historisch-kritischen Forschung zugrunde liegt. Letztere hat ihre eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen nicht wirklich aufgearbeitet.

Im Blick auf die Theologie fordert Zerbst, dass die Regula fidei, d. h. die Glaubensregel des Taufbekenntnisses, in der Theologie als Basissätze reflektiert werden müssen. Ein methodischer Atheismus, der die Möglichkeit vom Reden und Handeln Gottes in der Geschichte ausschließt, greift deshalb zu kurz und er geht am Wesen der Offenbarungserkenntnis, die der Glaube hat, vorbei. Der Autor zeigt, dass die Kriterien für historisch-kritische Arbeit, wie sie der liberale Theologe Ernst Troeltsch entwickelt hat, dem Selbstverständnis der Bibel nicht gerecht werden. Die Troeltschen Prinzipien der Kritik, der Analogie und Korrelation reichen nicht tief genug, um überhaupt Glaubenserkenntnisse zuzulassen. Glaubenserkenntnis kann nicht durch bloßes Nachdenken gewonnen werden, sondern gründet in der Begegnung mit der Person Jesu Christi. Dabei bleibt zu bedenken, dass der Begriff „Begegnung“ im Blick auf Jesus nicht einfach und naiv mit Phänomenen zwischenmenschlicher Begegnungen hinreichend beschrieben werden kann.

In der Summe geht es dem Verfasser beim Abgleich zwischen Glaube und irdischer Wirklichkeit darum, die ganze Fülle biblischer Wirklichkeitsbeschreibungen mit der komplexen Realität unserer modernen Welt zusammenzudenken.

Die von Zerbst vorgetragene Apologie des christlichen Glaubens beschreibt eine geistesgeschichtliche Landkarte, die zu lesen äußerst hilfreich und fruchtbar ist. Selbst wer sich auch nur im lexikalischen Sinne über einzelne herausragende Persönlichkeiten und einflussreiche Entwicklungen knapp und präzise informieren möchte, kann dieses Buch als ein Nachschlagewerk benutzen.

Der Gewinn der Lektüre besteht vorrangig darin, die Freude und Glaubensgewissheit der biblischen Botschaft neu zu entdecken und sie im öffentlichen Diskus zu vertreten. Die geistesgeschichtlichen Einsichten von Zerbst sind eine Ermutigung für Christen, nach den Kant’schen Grundsatz: „Wage es, dich deines Verstandes zu bedienen“, weil Vernunft und Glaube keine unüberwindlichen Gegensätze sind. Sie bestätigen sich stattdessen wechselseitig. Der Autor, der über Jahrzehnte wissenschaftlich gearbeitet hat, fasst in dem Buch sein Hauptanliegen dahingehend zusammen, den christlichen Glauben zu vertiefen, zu klären und zu stärken.


Dr. Rolf Hille, Honorarprofessor für Systematische Theologie und Apologetik an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, seit Februar 2019 emeritiert, zuvor Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen und Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz sowie Direktor für deren ökumenische Angelegenheiten